Die Beschäftigung mit sexuellen Themen und zwischenmenschlichen Beziehungen prägt das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Diese Themen nehmen im schulischen Alltag einen wichtigen Platz ein. Zugleich ist die Schule rechtlich den Eltern im Hinblick auf die Sexualerziehung gleichgestellt – sie hat den Auftrag, Kinder und Jugendliche zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Liebe, Sexualität und Beziehungen zu befähigen. Auch im Hinblick auf Grenzachtung und den Schutz vor sexualisierter Gewalt. Lehrer*innen und auch andere pädagogische Fachkräfte sollten daher qualifizierte Vertrauenspersonen für Schüler*innen sein, sind jedoch oftmals nicht ausreichend qualifiziert oder haben persönliche Hemmnisse, das Thema Sexualität im schulischen Kontext professionell aufzugreifen. Eigene Prägungen, Haltungen und Erlebnisse beeinflussen die pädagogische Handlungskompetenz.
Das Curriculum „Sexuelle Bildung für das Lehramt 2.0 – Lieben lernen | Lieben lehren“ füllt die Lücke. Es eignet sich insbesondere für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften und entspricht aktuellen wissenschaftlichen Standards und Bedarfen in den Themenfeldern Sexuelle Bildung, sexuelle Selbstbestimmung sowie Prävention von und Intervention bei sexualisierter Gewalt. Eine Adaption für weiteres schulisches Personal und anderweitig tätige pädagogische Fachkräfte ist möglich und wünschenswert.
Das Curriculum knüpft an die entsprechenden internationalen Übereinkünfte an. So definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sexuelle Gesundheit als „Zustand körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens bezogen auf die Sexualität“ und erklärt weiter: „Sexuelle Gesundheit erfordert sowohl eine positive, respektvolle Herangehensweise an Sexualität und sexuelle Beziehungen als auch die Möglichkeit für lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen, frei von Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt.“ (WHO, 2006)
Zur Entstehung von SeBiLe 2.0
Seit den Aufdeckungen von Fällen teils jahrzehntelang ausgeübter sexualisierter Gewalt in verschiedenen Institutionen – darunter Schulen und kirchliche Einrichtungen – werden bundesweit Anstrengungen unternommen, um Kinder und Jugendliche besser vor sexualisierter Gewalt zu schützen.
Der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich” kritisiert, dass das Thema Sexueller Missbrauch von Kindern als auch Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern in Gesellschaft und Wissenschaft vielfach ein Tabuthema ist (vgl. BMFSFJ, 2011, S. 43). Da es kaum Professor*innen, Doktorand*innen und Habilitierende gibt, die sich wissenschaftlich mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzen, werden an Hochschulen bislang nur ausnahmsweise Vorlesungen und Seminare zum Thema angeboten (vgl. Urban et al. 2022). Dem gegenüber braucht es für die wirksame Prävention von sexualisierter Gewalt geschulte Fachkräfte, die sich bereits in ihrer Ausbildung mit der Thematik auseinandergesetzt haben (vgl. BMFSFJ, 2011, S. 43)
Den Anstoß, das Thema sexueller Missbrauch von Kindern dauerhaft in der hochschulischen Ausbildung zu verankern, gab die Förderung von fünf Juniorprofessuren im Rahmen der BMBF-Förderlinie „Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten“ (2014-2020). In diesem Zusammenhang entstand das Verbundprojekt „SeBiLe – Sexuelle Bildung für das Lehramt“ der Hochschule Merseburg und der Universität Leipzig (Informationen auf: www.sebile.de). Eine empirische Erhebung unter Lehramtsstudierenden und im Schuldienst tätigen Lehrkräften legte eine Diskrepanz zwischen dem pädagogischen Selbstverständnis der Lehrkräfte und zwingend notwendigen Ausbildungsinhalten offen. Um den ermittelten Bedarfen nachzukommen und bestehende Lücken in den Inhalten von Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften zu schließen, wurde ein bundesweit einmaliges Curriculum zu Sexueller Bildung und Prävention von sexualisierter Gewalt entwickelt (vgl. Urban et al. 2022). Durch die starke Fokussierung auf die Prävention von und die Intervention bei sexualisierter Gewalt geraten im SeBiLe-Curriculum allerdings allgemeine Frage zu den Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen in den Hintergrund. Eine Fortentwicklung des Curriculums war erforderlich.
Im Anschluss an SeBiLe greift „SeBiLe 2.0 – Lieben lernen | Lieben lehren“ zusätzlich Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und der Verwirklichung sexueller Gesundheit auf. Alters- und entwicklungsgemäße Sexuelle Bildung wird als zentrale Gelingensbedingung der Prävention von sexualisierter Gewalt begriffen. Entsprechend sind in „SeBiLe 2.0 – Lieben lernen | Lieben lehren“ deutlicher als zuvor altersgemäße Schwerpunkte vorgesehen und werden jeweils altersspezifisch Fragen der sexuellen Entwicklung mit gesundheitlichen und die Selbstbestimmung fördernden Fragen verschränkt betrachtet. Das Themenfeld „neue Medien“ wurde im Curriculum weiter gestärkt. Mit Blick auf die mit dem Lehren zum Themenfeld Sexualität für Fachkräfte verbundenen Herausforderungen, werden im Curriculum „SeBiLe 2.0 – Lieben lernen | Lieben lehren“ zudem stärker als zuvor Fragen von Unsicherheit der Lehrkräfte reflektiert und hinterfragt. Dies geschieht sowohl mit Blick auf institutionelle Voraussetzungen als auch in Auseinandersetzung mit der Biografie der (angehenden) schulischen Fachkräfte.
„SeBiLe 2.0 – Lieben lernen | Lieben lehren“ schafft einen anerkennenden und schützenden Raum für Lehramtsstudierende, in dem mit Vertrauen, Freude und nicht zuletzt Humor über sensible und ernste Themen gesprochen wird, damit sie künftig Kinder und Jugendliche professionell darin begleiten können, sich in den aktuellen sexualpolitischen Diskursen und persönlichen Herausforderungen zu bewussten, (auch sexuell) selbstbestimmten Erwachsenen zu entwickeln.
Zum Titel
Für den Titel „SeBiLe 2.0 – Lieben lernen | Lieben lehren” wurde das Verb lieben gewählt, um zu verdeutlichen, dass lieben vielmehr eine aktive Handlung als ausschließlich ein Gefühl ist. Nach der us-amerikanischen Hochschullehrerin bell hooks ist Zuneigung nur ein Aspekt der Liebe. Morgan Scott Peck beschreibt: „Liebe ist das, was Liebe tut. Liebe ist ein Willensakt – nämlich sowohl eine Absicht als auch eine Handlung. Wollen beinhaltet auch eine Wahl.” (Peck 1978, S. 95f) Um Lieben zu lernen und die Entscheidung zu lieben, treffen zu können, muss ein Mensch verschiedene Qualitäten entwickeln – „Fürsorge, Zuneigung, Anerkennung, Respekt, Hingabe und Vertrauen sowie eine ehrliche und offene Kommunikation.“ (bell hooks, 2022, S. 39). Dasselbe gilt für die sinnliche, sexuelle Liebe. Um sich selbstbestimmt für sexuelle Begegnungen und liebevolle Beziehungen zu entscheiden, braucht es mehr als Lust. Es braucht den ganzen Menschen mit eben jenen Eigenschaften. Ebenso braucht es für die Vermittlung Sexueller Bildung die Lehrkräfte als ganze Menschen. Idealerweise kultivieren Lehrer*innen und Lehramtsstudierende die von bell hooks skizzierten Aspekte der Liebe, um der jüngeren Generation Vorbild sein zu können (und gewiss auch im Hinblick auf einen Wert für das eigene Leben). Wir möchten die (zukünftigen) Lehrkräfte entsprechend auch ermutigen, im Bereich von Liebe und Sexualität selbst Lernende zu bleiben – und so auch offen für die Perspektiven ihrer Zielgruppe zu sein und mit ihr auch hinsichtlich der Fragen zu Sexualität wertschätzend umgehen zu können.
Quellen
BELL HOOKS (2022). Alles über Liebe. Neue Sichtweisen. (3.Aufl.) HarperCollins, Hamburg.
BMFSFJ (2011). Abschlussbericht. Runder Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich.“ Berlin.
PECK, S. (1978). Der wunderbare Weg. Droemer Knaur, München.
URBAN, M., WIENHOLZ, S., KHAMIS, C. (Hrsg., 2022). Sexuelle Bildung für das Lehramt: Zur Notwendigkeit der Professionalisierung. Gießen: Psychosozial-Verlag.
WHO (2006). Defining sexual health. Report of a technical consultation on sexual health, 28–31 January 2002. Genf.